Als zwei Staaten in Deutschland existierten, gab es auch immer Menschen, die das Land wechseln wollten. Die Mehrheit - rund 5,2 Millionen - ging von Ost nach West. Nach dem Bau der Mauer war dies nur unter Lebensgefahr und mit hohem persönlichem Risiko möglich, wie das gerade erschienene Buch "Das Haus am hohen Ufer" meines Kollegen George Tenner eindrucksvoll schildert. Zum 20. Jahrestag des Mauerfalls werden diese Fälle im Mittelpunkt der Erinnerungen stehen.
Aber auch das Umgekehrte gab es: Rund 500.000 Bundesbürger sind zwischen Staatsgründung und Auflösung in die DDR übergesiedelt. Dies fand der Historiker Bernd Stöver von der Universität Potsdam nach rund siebenjähriger Forschungsarbeit unter anderem in bisher verschlossenen Geheimdienstarchiven heraus. "Der Wechsel von West nach Ost ist bis heute ein deutsch-deutsches Tabuthema", sagte Stöver am vergangenen Donnerstag in Düsseldorf bei der Präsentation seiner Forschungsarbeit vor der Gerda-Henkel-Stiftung, die sein Projekt finanziell unterstützt hat (wozu Waschmittel-Konzerne doch manchmal gut sind).
Bernd Stöver beschreibt auf gut 380 Seiten erstmals, wovor die Übersiedler flohen, mit welchen Erwartungen sie in die DDR kamen und wie es ihnen im Arbeiter- und Bauernstaat ergangen ist. Sein besonderes Augenmerk gilt dabei prominenten Auswanderern wie dem ersten westdeutschen Verfassungsschutzchef Otto John, den Spionen Günter Guillaume und Hans Wax, den Bundeswehroffizieren Bruno Winzer und Adam von Gliga, Politikern sowie den Terroristinnen Inge Viett und Susanne Albrecht, deren abenteuerlichen West-Ost-Biographien er auf der Grundlage von bisher unbekannten Akten von beiden Seiten der Grenze schildert.
Nach Stövers Erkenntnissen waren zwei Drittel der Wessis, die Richtung Osten "rübergemacht" haben, Männer im Alter zwischen 15 und 25 Jahren. Die meisten von ihnen seien Handwerker oder Arbeiter gewesen und häufig von den versprochenen sozialen Besserstellungen wie Arbeitsgarantie oder geringe Mieten in der DDR angelockt worden.
Andere trieben Schulden oder eine zu erwartende Gerichtsstrafe in die DDR. Auch ein erhoffter Studienplatz sei - wie etwa beim Parteichef der LINKEN Lothar Bisky - Grund für den Weg gen Osten gewesen, sagte der Potsdamer Wissenschaftler. Nur in vergleichsweise wenigen Fällen hätten direkt politische Gründe die Westdeutschen zur DDR-Übersiedlung veranlasst. Dies sei etwa bei dem Liedermacher Wolf Biermann der Fall gewesen, den der antifaschistische Kurs der DDR überzeugt habe, erklärte der Historiker.
Bei genauer Betrachtung der Übersiedlungsgründe sei der Weg der Westdeutschen in die DDR jedoch "kein Sonderfall der Migrationsgeschichte", bei der in allen Zeiten grundsätzlich der Wunsch nach persönlicher Besserstellung sowie nach ökonomisch-sozialer Sicherheit im Vordergrund stehe. Erst die ideologischen Auseinandersetzungen des Kalten Krieges hätten dieses Phänomen politisch aufgeladen, betonte Stöver. Die Zahl der Übersiedler nach Osten zeige aber auch, dass die politischen Kämpfe des Kalten Krieges im persönlichen Leben der Deutschen kaum eine Rolle gespielt hätten.
Bernd Stöver
Zuflucht DDR. Spione und andere Übersiedler
Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung
München 2009. 383 Seiten mit 47 Abbildungen
Leinen, € 24,90
C.H. Beck ISBN 978-3-406-59100-6