Heute - am 10. Mai - ist nicht nur Muttertag. In der DDR wurde an diesem Datum immer der "Tag des freien Buches" begangen, in Erinnerung an die Bücherverbrennung durch die Nazis vom 10. Mai 1933. Ein guter Anlass, um sich mal mit der Kriminalliteratur in der DDR zu beschäftigen. Die Alligatorpapiere haben dazu schon vor längerer Zeit eine ausführliche Untersuchung von Wolfgang Mittmann veröffentlicht. Der (inzwischen verstorbene) ehemalige Kriminalhauptkommissar und Autor schrieb darin:
Wer vom Krimi in der DDR spricht, sollte wissen, daß in der einundvierzigjährigen DDR-Geschichte 38 Verlagshäuser, die entweder in Parteienbesitz oder staatseigen waren, etwa 2.600 Krimititel gedruckt haben. (Romane, Erzählungen, Tatsachenberichte und Kurzgeschichten; Spionageliteratur ist hier eingeschlossen). 800 Romane und Erzählungen wurden aus Fremdsprachen übersetzt. ... Wenn man also vom Krimi in der DDR spricht, dann ist die gesamte verlegerische Produktion einzubeziehen und bei der Aufzählung der genannten Autoren verbietet es sich wohl von selbst, sie kurzerhand in der Schublade "Agitprop" abzulegen. Gezielt wird wohl eher auf die 570 DDR-Autoren, die 1.800 Krimititel verfasst haben. Aber pauschale Vorurteile, wie sie zur Zeit erneut in Mode sind, negieren, dass der DDR-Krimi weitaus vielschichtiger und interessanter war, als der oberflächliche Betrachter es gemeinhin wahrhaben will.
Ausführlich erläuterte Mittmann die Entwicklung des Krimi-Genres in der DDR und die Widersprüche, denen sich die Autoren ausgesetzt sahen. Etwa diesen hier:
Zu den nicht öffentlich festgeschriebenen, aber immer wieder praktizierten Tabus gehörte:- Partei- oder Staatsfunktionär treten nicht als Täter auf;
- Zweifel an der zuverlässigen Arbeit der Sicherheits- und Rechtspflegeorgane gibt es nicht;
- Geiselnahmen, um z.B. die Ausreise aus der DDR zu erzwingen, bleiben ausgeblendet, um keine Nachahmer anzuregen.
Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Als Dorothea Kleine in ihrem 1965 gedruckten Kriminalroman "Mord im Haus am See" eine kleine Betriebsgewerkschaftsfunktionärin als Täter präsentierte (wobei sie nur einem authentisch Kriminalfall gefolgt war), ging das Manuskript bei der Zensur zwar noch durch, führte aber nach der Veröffentlichung zu heftigen Protesten auf Seiten des FDGB-Zentralvorstandes.
Auf Dauer ließen sich die Widersprüche allerdings auch mit solchen Regieanweisungen nicht unter der Decke halten.
Mit Beginn der achtziger Jahre begann die Krise, in der sich die DDR-Gesellschaft befand, auch im Krimi sichtbar zu werden. Die Autoren versuchten ästhetische Freiräume zu schaffen. Mit zunehmend kritischerem Blick beschrieben sie die Widersprüche im sozialistischen Staatssystem, die zu neuen Formen der Kriminalität führen mußten. Als Nebenprodukte zu den eigentlichen Krimihandlungen wurden u.a. Mangelwirtschaft in den Industriebetrieben, Auswirkungen im Konsumtionsprozeß, die Vereinsamung des Individuums in den allzu grauen realsozialistischen Betonwohnstädten thematisiert... Als Dissidentenliteratur hat sich der Krimi in der DDR nie verstanden, eher als eine Beschreibung realer Zustände.
Das Fazit des Krimiautors und Komissars:
Pauschale Formulierungen, wie "der DDR-Krimi sei hausbacken gewesen", er "müffele nach Kohlsuppe und Zweitaktergemisch" zeugen von Pharisäertrum und bornierter Selbstgefälligkeit. Krimis wurden in der DDR für den DDR-Bürger sowohl zur Unterhaltung als auch zu seiner Läuterung geschrieben. Sie erschienen in Erstauflagen von 50.000 bis 100.000. Manche erlebten Zweit- und Drittauflagen in ähnlichen Höhen. Sie waren beim lesehungrigen Publikum begehrt und wurden nicht selten als "Bückware" im Buch- oder Zeitschriftenhandel verkauft. ... In der DDR wurden gute und schlechte Krimis gedruckt, wie in jedem Sprachraum dieser Welt. Wir sollten die Krimis als Zeitzeugen nehmen, sie mit einem weinenden und einem lachenden Auge lesen.
Übrigens: Den ersten Kriminalroman zwischen zwei Buchdeckeln in der DDR hat Wolfgang Schreyer mit dem Titel "Großgarage Südwest" im Jahre 1952 verfasst. Die Ironie der Geschichte wollte es, dass er 1990/91 auch den letzten DDR-Krimi schrieb - mit dem nahezu symbolischen Titel "Nebel".
|