15.11.08

Eigentor: Lutz Heilmann stoppt die Wikipedia (kurzzeitig)


1. Letztes Update (Dienstag-Mittag)

Die Aufregungswelle wird langsam niedriger und die Zahl der Besucher dieses Weblogs schrumpft wieder auf Normalmaß. Ein paar Dinge bleiben nachzutragen: Zunächst einmal das Original der Einstweiligen Verfügung gegen Wikipedia.de, denn darin stehen die konkreten Punkte, die Lutz Heilmann in dem Beitrag über sich nicht lesen wollte. Und auch die Namen der Richterinnen und Richter, die diesen von jeder Technik-Kenntnis ungetrübten Beschluss gefasst haben. Oder wollten sie ihren ehemaligen Referendar Heilmann bewusst ins offene Messer laufen lassen. Das wäre ihnen dann vortrefflich gelungen. Dazu auch ein offener Brief an die RichterInnen. 
 
Interessant der Hinweis von Sebastian Moleski, dem Geschäftsführer von Wikimedia Deutschland, dass der Wikipedia-Artikel über Heilmann mittlerweile besser ist als vor dem Lübecker Gerichtsbeschluss.
Seit Freitag wurde der Artikel hundertfach überarbeitet und dabei auch einige unbewiesene Behauptungen über Heilmann entfernt. Uns ist Quellengenauigkeit und Glaubwürdigkeit sehr wichtig. Man kann nicht einfach Behauptungen übernehmen, nur weil sie irgendwo gestanden haben.
Spiegel Online wirft ebenfalls einen bedenkenswerten Aspekt in die Debatte:
In den USA würde Heilmanns Geschichte wohl kaum jemandem auffallen. Dort scheint die Manipulation von Online-Lebensläufen längst eine Art Volkssport zu sein - sei es durch Schlechtmachen oder Aufpolieren. Politiker-Biografien werden geschönt, erfunden oder schlicht komplett ausgetauscht. "Edit Wars" nennt sich das auf Englisch, was so viel wie "Krieg der Bearbeiter" bedeutet. Da werden Einträge aufgehübscht - oder eben in die andere Richtung gedreht. Und Stimmung gemacht.
Bei der "Achse des Guten" und der Bild-Zeitung sieht man das natürlich anders und pflegt lieber weiter die alten Feindbilder. Das Springer-Blatt freut sich auch über den sprunghaften Anstieg der Spenden für die Wikipedia, die ja sonst eher etwas suspekt ist.

Freuen kann sich ebenfalls Lutz Heilmann über die Zugriffszahlen auf "seinen" Wikipedia-Text. 518.166 Besucher interessierten sich alleine am Samstag und Sonntag für seine Biographie. Stellenweise hat er es damit unter die Top 3 der internationalen Abrufe geschafft. Netzpolitik.org zieht das Fazit:
Die Öffentlichkeitskampgne von Lutz Heilmann war ein voller Erfolg. Knapp ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl dürfte er jetzt einer der prominentesten Bundestagsabgeordneten von der Linkspartei sein. Keine schlechte PR-Strategie für einen Hinterbänkler.
Die Linke in Lübeck (dem Wahlkreis von Lutz Heilmann) und der Parteivorsitzende Lothar Bisky haben sich übrigens auch deutlich vom Vorgehen des Abgeordneten distanziert:

Der Vorsitzende der LINKEN Lothar Bisky, selbst Medienwissenschaftler und medienpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion, war »entsetzt«, als er am Wochenende in Wien von dieser unliebsamen Angelegenheit erfuhr. Wenn man seine Persönlichkeitsrechte wahren wolle, könne man sich »in einem offen zugänglichen Medium wie Wikipedia anders schützen als mit Gerichten«, so Bisky gegenüber ND. »Die Linke schätzt freie Informationsformen außerordentlich hoch.«
Und im Literaturcafé stellt man die Grundsatzfrage, ob das letzte Wochenende nicht die generelle Flüchtigkeit des Online-Wissens beweise. Ja, das tut es. Darum soll mein Regional-Krimi "Aktion Störtebeker" auch als gedrucktes Buch erscheinen. Dessen Erscheinen kann man zwar auch mit Einstweiligen Verfügungen verhindern. Aber dann bleibt mir ja immer noch das Internet.

2. Stand vom Montag-Mittag

Die Startseite http://www.wikipedia.de/ ist nun wieder erreichbar (und wird vermutlich ebensowenig wie früher genutzt, da die meisten Leute direkt oder per Suchmaschine zugreifen). Die Frage, wie man mit sachlich falschen Informationen in der Wikipedia umgeht, bleibt und die Linke distanziert sich von Herrn Heilmann und seinem Vorgehen. Der sächsische Landtagsabgeordnete Heiko Hilker hat es übrigens schon gestern sehr schön auf den Punkt gebracht:

Falls die juristische Aktion von Lutz Heilmann gegen Wikimedia Deutschland keine PR-Aktion war, offenbart dies, dass ihm das technische Verständnis für das Internet fehlt, er juristisch oberflächlich arbeitet sowie als Politiker unfähig ist, die geeigneten Mittel einzusetzen.

3. Stand von Sonntag-Abend:

Es hat zwar ziemlich lange gedauert. Aber rechtzeitig vor Ende des Wochenendes meldete sich die Bundestagsfraktion der Linken zusammen mit dem Lübecker Abgeordneten Lutz Heilmann doch noch mit einer Pressemitteilung zu Wort. Darin ist zu lesen:
Nachdem die falschen, ehrabschneidenden und deshalb mein Persönlichkeitsrecht verletzenden Inhalte weitgehend aus dem entsprechenden Artikel entfernt wurden, habe ich gegenüber dem Wikimedia e.V. erklärt, dass ich keine weiteren juristischen Schritte unternehmen werde und die Weiterleitung auf die Wikipedia-Inhalte unter http://de.wikipedia.org wieder geschaltet werden kann. … Ich bedaure außerordentlich, dass durch die von mir beantragte Einstweilige Verfügung des Landgerichts Lübeck die deutschen Wikipedia-Userinnen und -User in den letzten 24 Stunden keinen direkten Zugriff mehr auf die Wikipedia-Inhalte hatten. Mir ging es dabei keineswegs um Zensur, sondern schlicht um eine wahre Tatsachen-Darstellung. …. Gemeinsam mit Wikimedia e.V. werde ich nach anderen Wegen suchen, um den offenen und freien Charakter von Wikipedia so weiter auszugestalten, dass Persönlichkeitsrechte gewahrt bleiben.
An dem PR-Gau, den die Einstweilige Verfügung verursacht hat, wird das nicht mehr viel ändern. An den Fehlwahrnehmungen in den Medien und bei Bloggern vermutlich auch nicht. Da wird zum Teil ein echter Popanz aufgebaut. Aber immerhin hat die Parteiführung der Linken Lutz Heilmann offensichtlich zur Vernunft gebracht.


Wikipedia war das ganze Wochenende erreichbar

Und man sollte die Kirche auch im Dorf lassen. Denn in den letzten 24 Stunden war weder die Wikipedia (inklusive des strittigen Artikels über den Abgeordneten) komplett gesperrt, noch hat eine Zensur des Internet stattgefunden. Und die “armen Schülerinnen und Schüler”, die sich am Wochenende nicht auf den Unterricht vorbereiten konnten (wie teilweise zu lesen war), sind vermutlich clever genug, um auf Wikipedia-Inhalte entweder direkt oder über eine Suchmaschine zuzugreifen (was sowieso in der Mehrzahl der Fälle der Weg ist).

Was bleibt also von dieser Posse neben dem Imageschaden für die Linke? Vor allem die Erkenntnis, dass sich Politiker intensiver mit den Wirkungsmechanismen des heutigen Web beschäftigen sollten. Dann könnten sie vielleicht das Ergebnis von unbedachtem Handeln besser einschätzen. Und es stellt sich schon die Frage, wie eine Privatperson gegen Falschbehauptungen in der Wikipedia wirkungsvoll vorgehen kann?

Denn inzwischen ist relativ unstrittig und auch gestern bereits in der Wikipedia entsprechend korrigiert worden, das bestimmte Spekulationen aus dem privaten Bereich des Abgeordneten eigentlich in der Online-Enzyklopädie nichts verloren haben. Direkte Korrekturen sind zwar möglich (und wurden wohl auch versucht), arten aber sehr schnell in einen Editoren-Krieg aus. Eine Gegendarstellung - die im Falle von Falschbehauptungen in der Presse funktioniert hat - blieb bei der Wikipedia ebenfalls wirkungslos. So blieb Lutz Heilmann nach eigener Einschätzung nur der juristische Weg. Dabei sollte auch bedacht werden, dass ein deutscher Richter am Landgericht Lübeck die Einstweilige Verfügung erlassen hat. Schlagzeilen wie “Die Linke zensiert das Internet” sind also doppelt falsch.

Letztendlich hat Heilmann vermutlich genau das Gegenteil von dem erreicht, was er wollte. Sein Name und seine Vergangenheit als Personenschützer in der DDR sind nun wirklich breit bekannt. Und auch die Verbindung “Heilmann” und “Sexshop” scheint - wenn man sich die Google-Suchen etlicher Besucher in diesem Blog hier betrachtet - in den letzten Stunden sehr beliebt gewesen zu sein.

Ein paar weiterführende Links:
(mit Material aus dem PR-Kloster)


4. Die Vorgeschichte (Samstag-Vormittag):

Der Lübecker Bundestagsabgeordnete Lutz Heilmann (Die Linke) ist ein PR-Genie. Denn seit gestern prangt sein Name auf der Einstiegsseite der deutschen Wikipedia. Jeder, der die freie Enzyklopädie aufrufen will, liest nun gezwungenermaßen den Name des Hinterbänklers und informiert sich offensichtlich weiter. Seine Website war am Samstag auf jeden Fall länger nicht erreichbar.

Der Grund für den Ansturm ist allerdings weniger lustig und steht auf der Wikipedia-Startseite: 
"Mit einstweiliger Verfügung des Landgerichts Lübeck vom 13. November 2008, erwirkt durch Lutz Heilmann, MdB (Die Linke), wird es dem Wikimedia Deutschland e.V. untersagt, "die Internetadresse wikipedia.de auf die Internetadresse de.wikipedia.org weiterzuleiten", solange "unter der Internet-Adresse de.wikipedia.org" bestimmte Äußerungen über Lutz Heilmann vorgehalten werden. Bis auf Weiteres muss das Angebot auf wikipedia.de in seiner bisherigen Form daher eingestellt werden. Der Wikimedia Deutschland e.V. wird gegen den Beschluss Widerspruch einlegen."
Hintergrund dieser Verfügung sind wohl vier Passagen in dem Wikipedia-Eintrag zum beruflichen und politischen Werdegang von Lutz Heilmann, mit denen er nicht einverstanden ist. Inhaltlich kann ich das nicht beurteilen. Aber dass man sich mit solchen Aktionen keine Freunde schafft und einen Aufschrei der Empörung hervorruft, sollte einem halbwegs klar denkendem Menschen eigentlich klar sein. Und sofort wird natürlich auch wieder das Demokratieverständnis der Linken in Zweifel gezogen.

Kein Wunder, dass sich auch Mitglieder und Sympathisanten der Linken angesichts dieser wenig sensiblen Herangehensweise entsetzt zeigen. Was Herrn Heilmann fehlt, ist Medienkompetenz. Offensichtlich geht es in dem Wikipedia-Beitrag (der natürlich trotzdem erreichbar ist) vor allem um die Tätigkeit von Heilmann in der Personenschutzabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit während und nach seinem Wehrdienst. Er selbst schreibt dazu heute in seinem Lebenslauf: "Von Oktober 1985 bis Januar 1990 Wehrdienst/ Wehrersatzdienst bei der Abteilung Personenschutz des Ministeriums für Staatssicherheit." Wo also liegt das Problem mit den etwas detaillierteren Angaben in der Wikipedia?

Diese jüngste PR-Aktion scheint allerdings nicht das erste Mal zu sein, dass der Abgeordnete für Negativ-Schlagzeilen sorgt. Erst vor wenigen Tagen schrieb die der Linken nahestehende Zeitung "Neues Deutschland":
"Flutsch-Express.de ist im Internet derzeit nicht erreichbar. Noch zu Wochenanfang aber hatte, wer die in dem Online-Sexshop angegebene Nummer anrief, Lutz Heilmann am Apparat, den Schleswig-Holsteiner Bundestagsabgeordneten der LINKEN. Und wer per »whois« die Meldeadresse des fraglichen Versands abfragt, erhält noch immer dessen Lübecker Adresse. Heilmann, der zuletzt mit Parteiausschlussforderungen wegen vermeintlicher Stalin-Geburstagsfeiern gegen den Lübecker Parteichef Ragnar Lüttke in der Landespresse Schlagzeilen gemacht hatte, geriet zu Wochenbeginn plötzlich selbst unter Druck. Zeitungen fragten, ob er einen Sexshop betrieben hatte – und »Bild« meldete, seine Immunität sei aufgehoben worden, weil er einen Dritten bedroht habe."
Lutz Heilmann bestritt gegenüber dem Blatt die Vorwürfe und hatte auch eine Erklärung für die Vorgänge. Wenn man Focus Online glauben darf, liegt hier auch der eigentliche Grund der Einstweiligen Verfügung: „Hierbei handelte es sich um falsche Tatsachenbehauptungen, die meinen Ruf schädigen“, erklärte Heilmann im Gespräch mit dem Online-Medium. So stimme es nicht, dass er für sein Abgeordnetenmandat sein Studium unterbrochen habe, auch die Spekulationen über seine Beteiligung an einem Sex-Versand gehörten nicht in den Artikel. Details zu den Grabenkämpfen bei den Linken in Schleswig-Holstein hat Mein (SPD)-Parteibuch und prophezeit dem klagefreudigen Abgeordneten auch gleich das Ende seiner Polit-Karriere (was angesichts der gerade gewonnenen Bekanntheit ein weiteres Eigentor wäre).

Dubios ist das Ganze allerdings schon und wirft auch auf die Partei, für die er im Bundestag sitzt, kein gutes Licht. Ein PR-Gau ist es allemal. Diesen Fall allerdings zu verallgemeinern und damit generell Stimmung gegen die Linke zu machen, ist auch nicht gerade fair.